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21.12.11

1. Meisterkurs "Heinrich von Veldeke" mit Bagby und Lewon absolviert

Ein neuer Meisterkurs zur Musik des Mittelalters hat soeben in Alden Biesen bei Maastricht/Lüttich (Belgien) begonnen. Veranstaltet von www.musica.be (Herman Baeten und Bart de Vos) sind 3 Einheiten von jeweils 3 Tagen Länge einem einzigen Thema gewidmet: dem Minnesänger und Ependichter "Heinrich von Veldeke" (oder auf flämisch "Hendric van Veldeke").

Die drei Kurse werden geleitet von Benjamin Bagby und Marc Lewon und widmen sich v.a. dem lyrischen Werk Veldekes, also den Minneliedern. Da wie bei den allermeisten Minnesängern natürlich auch bei Veledeke keine Melodien überliefert ist, ist ein praktisch-musikalischer Meisterkurs hier mit einigen Problemen behaftet. Die Herangehensweisen der beiden Kursleiter erlaubt aber dennoch eine praktische Annäherung an Veldekes Werk über das Prinzip der Kontrafaktur, in erster Linie aber über stilgerechte Improvisation auf Grundlage der Prinzipien einer mündlichen Kultur. Die Idee der Kontrafaktur wird ja bei der Erschließung von Melodien für den Minnesang immer wieder aufgewärmt - und gerade bei Heinrich von Veldeke, der in einer germanisch-französischen Grenzregion lebte, erscheint dieses Konzept auch sehr plausibel. Allerdings funktionieren Kontrafakturen, wie sie in der Vergangenheit z.B. von Jammers und Aarburg ediert wurden, in dieser Form musikalisch und stilistisch nicht (siehe dazu auch Artikel M. Lewon: "Der gesungene Gedichtsvortrag"). Im Kurs sollen die Teilnehmer für die Stilistik von Einstimmigkeit im 12. und 13. Jahrhundert sensibilisiert werden und selbst lernen, Typisches und Angemessenes von Untypischem und stilistisch Unangemessenem zu trennen, um selbst Lösungen für die Aufführung zu finden.
 
Zur ersten Einheit trafen sich am Freitag, dem 16.12.2011, die 10 aus aufwendigen Bewerbungen handverlesenen Teilnehmer aus verschiedenster Herren Länder (B, NL, D, CH, F, USA, RUS) auf Schloß Alden Biesen. Der Kurs begann nach dem Mittagessen. Zunächst stellten sich alle Teilnehmer über ein einstimmiges, mittelatlerliches Lied aus ihrem jeweiligen Repertoire vor, um ihren Hintergrund und ihre Herangehensweise zu demonstrieren und den Kursleitern einen Einblick in deren Fähigkeiten zu gewähren. Damit wurde auch sofort "das Eis gebrochen", denn es sollte stets und ständig und ohne Hemmungen direkt musiziert werden.
 Danach stellten die beiden Leiter das Programm für die kommenden Tage vor: Es sollte zunächst dem Prinzip der Kontrafaktur nachgespürt werden, und danach ein zweiter, improvisativer Ansatz vorgestellt werden. Es sollte eine Einheit für die Instrumentalisten geben, in erster Linie aber sollte die Arbeit über die Texte Veldekes stattfinden, die die "Lösungen" für die Musik in sich tragen.

Der nächste Arbeitsschritt bestand in der Präsentation von 6 "ersten" Strophen überlieferter einstimmiger Lieder, die wir im Vorfeld an die Teilnehmer verschickt hatten. Die Teilnehmer sollten diese Strophen (jedeR nur eine davon) auswendig lernen und präsentieren. Danach wurden "Kontrafakturannahmen" zu diesen Strophen verteilt, d.h. Texte, die angeblich als Kontrafaktur, also Neutextierung, über die auswendig gelernten Melodien geschrieben wurden. Dabei handelte es sich um übliche und angenommene Kontrafakturen, z.B. von Albrecht von Johansdorf, Friedrich von Hausen, Walther von der Vogelweide, aber auch schon um 2 angenommene Kontrafakturen von Heinrich von Veldeke. Diese Kontrafakturen sollten die Teilnehmer sodann "vom Blatt" auf ihre auswendig gelernten Melodien singen. Neben den üblichen kleinen Problemen bei der Textverteilung stellten sich sofort die sprachlichen Unterschiede zwischen französischen Vorlagen und deutschen Neutextierungen heraus, die sich auch auf die Aufführung, Rhythmik und Melodik erstreckten. Es brauchte also keiner großen Erklärungen, wo die Probleme von Kontrafakturen stecken, sondern jeder konnte direkt erfahren, daß es 1:1 nicht funktionieren kann. An diesen Stücken sollten dann über den nächsten Tag hinweg so und größtenteils eben auswendig gearbeitet werden, bis die Kontrafakturen "funktionieren". Wir teilten die 10 Musiker in 6 Gruppen auf (solistisch, bzw. Sänger+1 Instrument), die parallel in separaten Räumen an ihren Stücken und Kontrafakturen weiterarbeiteten und wanderten als Leiter von Raum zu Raum, um in die intensive Kursarbeit einzutreten. Diese Arbeit ging bis tief in den Abend. Als Abschluß des Tages ließen wir die Zwischenergebnisse dieser Intensivphase im Plenum einmal aufführen. Es zeigte sich, daß die "Kontrafakturen" zunehmend plausibel klangen.
 
Der zweite Tag begann mit einer instrumentalen Einheit, wobei wir zunächst eine Ikonographieeinheit vorschalteten, um zu zeigen, welches Instrumentairum für Minnesang eigentlich in Frage kommt. Die Einheit hielt schließlich fest: gezupfte Saiteninstrumente mit Hals (also Lauten, Quinternen, Cetras, Cetulas, Citolen, etc.) sind im deutschsprachigen Raum des 12. und 13. Jhs. praktisch nicht anzutreffen. Typisch sind natürlich die Fidel/Vielle als Begleitinstrument Nr.1 (nicht nur des frz. Raums, sondern auch des deutschsprachigen), die Traversflöte, die Drehleier, sowie eine Reihe von Zupfinstrumenten, bei denen jede Saite einem Ton zugeordnet ist (Harfe, Psalterium, Harfenpsalterium, Leier, etc.). Diese Feststellung bestimmt ganz wesentlich den Klang begleiteten Minnesangs. Bagby stellte daraufhin Begleittechniken mit der (romanischen) Harfe vor, die sich deutlich unterscheiden von dem, was man von einer Harfe des 15. Jhs. erwarten würde. Man sah deutlich die Verbindung zur Harfe des frühen Mittelalters (oft auch als "Leier" bezeichnet), die noch weniger Saiten enthält und ganz eigene Spieltechniken begünstigt. Wir diskutierten ein wenig über weitere Instrumente und Spieltechniken, namentlich auch die Citole, ein Instrument, das erst im 13. Jh. und v.a. in Spanien, Frankreich und England aufkommt, im deutschsprachigen Raum aber praktisch nicht - mit Ausnahme von frz.-dt. Grenzregionen, zu denen ja Flandern auch zählt. Ein Teilnehmer (Danil Ryabchikov) präsentierte seine Citole, die sich als klanglich der Harfe sehr ähnlich herausstellte und sich für die Begleitung von Einstimmigkeit ideal eignet.

Nach der instrumentalen Einheit fuhren wir mit der solistischen und Ensemblearbeit an den 6 genannten Stücken fort. Für den Nachmittag war von musica.be ein Vortrag des altgermanistischen Philologen Prof. Goossens angesetzt, der als Spezialist für das Oeuvre Heinrichs von Veldeke einen Vortrag über dessen Gesamtwerk, die Überlieferung und das "Veldeke-Problem" hielt (die Tatsache, daß Veldeke offenbar/wahrscheinlich auf altlimburgisch dichtete, die Werke aber fast alle auf mittelhochdeutsch erhalten/überliefert sind).
 

Die Abendeinheit des zweiten Tags war der Aussprache und Metrik des Mittelhochdeutschen gewidmet. Hier sollte es v.a. um die klangliche und formalen Eigenschaften der Sprache und Dichtung gehen - natürlich alles am Beispiel der bis dahin verteilten Kontrafakturstrophen aus dem frühen Minnesang. Obendrein wurden 6 neue Texte, allesamt von Heinrich von Veldeke, mit Übersetzungen verteilt, die die Grundlage für die Arbeit am nächsten Tag bilden sollten. Auch hier wurde Betonungsstruktur, Aussprache etc. im Plenum durchexerziert. Dabei wurde auch schon Wert auf die ästhetische und rhetorische Qualität gelegt, um die "verborgene Eleganz" der Texte (Zitat Ulrich Müller) Heinrichs von Veldeke schon im Ansatz herauszuarbeiten.


Der dritte Tag begann mit einem neuen Ansatz für die Teilnehmer: Es sollten neue Melodien improvisiert werden. Damit das ganze nicht in stilistisch "leerem Raum" stattfand, wurden zwei verschiedene Ansätze vorgestellt. Bei beiden sollten deutsche Melodienüberlieferungen als Vorbilder dienen, um eine typisch deutschsprachige Melodienbildung des 13. Jahrhunderts zu präsentieren - quasi eine Annäherung an Veldeke "von der anderen Seite" (nicht vom frz., sondern vom dt. Sprachraum aus). Dabei achteten wir darauf, daß die Vorbildkompositionen zeitlich möglichst nah am zu behandelnden Oeuvre lagen. Bagby hatte dafür Floskeln aus einem bestimmten Repertoire der Jenaer Liederhandschrift (ca. 1330) so herausdestilliert, daß sie als "Keimzellen" für das Erstellen neuer Melodien dienen konnten. Dieses Floskelmaterial brachte er den Teilnehmer schriftlos bei, die daraufhin Stück für Stück versuchten, durch freie Kombination neue "Vertonungen" von Veldeketexten zu schaffen. Von "Melodien" sollte in diesem Stadium noch nicht gesprochen werden, es waren erste Schritte in eine "Klangbarmachung", eine stilgerechte "Verklanglichung". Parallel dazu stellte Lewon einen anderen, ähnlichen Ansatz vor, indem dieses Mal Melodien aus der frühesten Neidhartüberlieferung (dem Frankfurter Neidhart-Fragment um 1300) als "Steinbruch" benutzt wurden. In diesem Ansatz wurde mehr nach Funktion musikalischer Phrasen unterschieden: typische Initiumsfiguren, mit dem man ein Stück oder einen Formteil, oder eine Verszeile beginnen kann, typische "Mittelteile" und typische Kadenzen. Ferner typische Floskeln zur Erweiterung des Tonraums oder zur Herstellung einen kontrastierenden Gegenklangs. Diese wurden den Teilnehmern ebenfalls durch Vor- und Nachsingen beigebracht. Danach sollten sie versuchen, diese Prinzipien auf Veldeke-Texte anzuwenden und siehe da: es ergaben sich schon 1-2 fast fertige und sehr plausible, neue Melodien.

Zwar war Veldekes Schaffenszeit das 12. Jh., da die überliefernden Textquellen aber alle aus dem späten 13. und frühen 14. Jh. stammen waren wir mit diesem improvisierenden Ansatz zeitlich in genau dem gleichen Raum - einer Veldeke-Rezeption um 1300.

Abschließend stellten alle Teilnehmer ihre improvisierten Versionen vor, soweit sie bis dann gediehen waren.

Natürlich gab es über die Tage und an den Abenden noch weitere Diskussionsrunden, die gelegentliche "Lautenstunde" und Fragen zu Interpretation und Technik. Das nächste Treffen dieses Meisterkurses findet Ende Januar statt.